Dezember 2023

«Manchmal rufen die Patientinnen mich in der Nacht an»

Die 40-jährige Jeewanthi Senevirathna ist bereits im siebten Jahr für FAIRMED im Einsatz. Hat sie zuerst vor allem Leprabetroffene zu Hause besucht, sind es nun vor allem Menschen mit Behinderungen. Für Jeewanthi ist ihre Arbeit nicht einfach ein Job. Sie betrachtet ihre Arbeit als Chance, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln und Herausforderungen zu meistern. Dafür lässt sie sich sogar mitten in der Nacht aus dem Schlaf reissen.

FAIRMED vor Ort: Du bist Informatikerin und Ökonomin. Was hat dich dazu gebracht, für eine NGO zu arbeiten?
Ich habe bereits von 2008 bis 2012 für das Internationale Rote Kreuz gearbeitet und es hat mir dort sehr gefallen, mich in der Katastrophenhilfe zu engagieren. Als dann mein Sohn zur Welt kam, konnte ich die Arbeitsbelastung nicht mehr bewältigen und wechselte zu einem 9 bis 5 Bürojob, der besser vereinbar war mit meinem Baby, jedoch nicht sehr sinnstiftend. In diesem Unternehmen, das Fahrzeuge verkaufte, war ich umgeben von ehrgeizigen jungen Leuten, die keine Ahnung hatten, was sie taten und wohin sie gingen – es gab keinen Spielraum für persönliches Wachstum am Arbeitsplatz, die Arbeit war weder anregend noch herausfordernd.

Das hat dich bewogen, dich bei FAIRMED zu bewerben?
Ja, ich wusste bereits aus meiner Erfahrung beim Roten Kreuz, dass im NGO-Sektor mehr mitfühlende, motivierte Menschen arbeiten und dass ich in diesem Bereich mehr herausgefordert werde und mich beruflich weiterentwickeln kann.

Und das hast du bei FAIRMED gefunden? Absolut. Ich bin inspiriert von meiner Chefin, der FAIRMED-Landeskoordinatorin Nayani Suriyarachchi! Sie ist Expertin in Gesundheitsfragen und eine ideale Managerin, die mich motiviert, mein Wissen und meine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Meine Arbeit ist interessant, motivierend und erfüllend.

Mit wie vielen Kolleginnen und Kollegen arbeitest du zusammen?
In meinem Bezirk bin ich die einzige FAIRMED-Mitarbeitende. Aber ich arbeite oft mit Gesundheitsangestellten der Regierung zusammen, insbesondere mit Gesundheitshelfenden und Hebammen.

Wie viele Patientinnen und Patienten betreust du?
Auf meiner Liste stehen 200 Menschen mit Behinderungen, bei denen ich regelmässig vorbeischaue. 72 von ihnen benötigen eine engmaschigere Betreuung – sie besuche ich mindestens einmal im Monat, berate sie, überwache ihre Übungen, versorge sie mit Medikamenten und Hilfsmitteln, unterstütze sie beim Gelderwerb, bei Wohnungsumbauten, stehe ihren Familienmitgliedern mit Rat und Tat zur Seite.

Wie sieht ein durchschnittlicher Wochentag für dich aus?
Um fünf Uhr stehe ich auf, um zu kochen. Ich koche Frühstück und Mittagessen und packe es für mich und meinen Sohn ein, mein Mann ist nur am Wochenende da. Dann bringe ich meinen Sohn zur Schule und beginne um 7.30 Uhr meine Arbeit im Büro. Erst erledige ich die Koordinationsarbeit, anschliessend besuche drei bis vier Menschen mit Behinderungen zu Hause, dafür miete ich jeweils ein Dreirad. Oft habe ich keine Zeit, zu Mittag zu essen, und packe mein Lunchpaket erst um 18 Uhr aus, wenn ich ins Büro zurückkehre, wo mein Auto steht. Zu Hause helfe ich meinem Sohn bei den Schularbeiten, oft geht das bis spätnachts, manchmal komme ich erst um zwei Uhr ins Bett.

Das gibt nicht gerade viel Schlaf für dich.
Nein, und manchmal rufen mich meine Patientinnen und Patienten mitten in der Nacht an. So wie Sryani, als sie Covid hatte. Es war gerade der Höhepunkt der Wirtschaftskrise und des Medikamentenmangels. Ich fragte Sryani immer wieder, ob ich sie mit Medikamenten oder Essen versorgen solle. Aber sie wollte nur mit jemandem über ihre Ängste sprechen, während sie stundenlang wach lag.

Wir haben dich bei deiner Arbeit begleitet und beobachtet, was für ein gutes Verhältnis zu deinen Patientinnen und Patienten hast. Du kümmerst dich so gut um sie und sie vertrauen dir und mögen dich. Gibt es jemanden, mit dem du nicht so gut umgehen kannst?
Hmm, lass mich nachdenken … nein, niemanden!

Wie hast du es geschafft, Silva (später im Magazin) zu motivieren?
Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er sehr deprimiert. Da er jedoch vor seinem Unfall so erfolgreich gewesen war, so voller Leidenschaft, Talent und Tatendrang, setzte ich alles daran, diese Qualitäten, die er durch seine Behinderungen verloren hatte, wieder zu entfesseln. Und siehe da, es ist gelungen! Er hat seine Begeisterung für das Leben zurückgewonnen. Und jetzt inspiriert er jüngere Menschen, die ihre Hoffnung durch Behinderungen verloren haben, in ähnlicher Weise. Ich liebe Fälle wie diese, in denen Menschen es schaffen, sich nochmals neu zu erfinden.

Was motiviert dich für diese Arbeit?
Ich möchte dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen den gleichen Lebensstandard und die gleiche Akzeptanz bekommen wie alle anderen in unserer Gesellschaft.

Du selber hast keine einfache Kindheit gehabt. Als du zehn Jahre alt warst, wurde dein Vater von der JVP, einer militanten Gruppe im Süden Sri Lankas, erschossen, und deine Mutter musste allein sieben Kinder durchbringen. Wie hat dich das geprägt?
Meine Mutter inspiriert mich bis heute. Trotz allem, was sie durchgemacht hat, hat sie immer noch Zeit gefunden, sich ehrenamtlich zu engagieren. Neben ihrer Arbeit, unserer Erziehung und dem Haushalt kümmerte sie sich immer noch regelmässig um bedürftige und kranke Menschen. Auch mein Vater war so. Noch heute, 30 Jahre nach seinem Tod, erzählen mir Menschen, dass sie ihm dankbar seien für die Hilfe, die er ihnen leistete.

Jeewanthi Senevirathna

Alter: 40 Jahre
Wohnort: Polonnaruwa, Sri Lanka
Wohnform: lebt mit Sohn und Ehemann zusammen
Ausbildung: Informatikerin/Ökonomin
Für FAIRMED im Einsatz seit: 2017