«Jetzt siehst du, warum wir in Sri Lanka nur ein so kleines FAIRMED-Team sind», erzählt Nayani Suriyarachchi, unsere Landeskoordinatorin in Sri Lanka und Ärztin, nachdem wir wohlbehalten auf Delft angelegt und unsere sehr bescheidene Unterkunft, eine Art Massenlager im Gebäude des Distriktsekretariats, bezogen haben. «Wir sind so wenige Leute im FAIRMED-Büro, weil die Regierung uns ihr Gesundheitspersonal zur Verfügung stellt, um unsere Gesundheitsprojekte zugunsten der Ärmsten durchzuführen. Die fast fünfzig Ärzte, Hebammen und Gesundheitsinspektoren, die mit uns auf die Insel gereist sind, sind die nächsten beiden Tage gemeinsam mit uns im Einsatz, und wir stehen ihnen mit Organisation und technischer Beratung zur Seite.»
Da FAIRMED sich bei der Regierung Sri Lankas über die jahrzehntelange Lepra-Arbeit einen Namen damit gemacht hat, die Ärmsten zu finden und medizinisch zu versorgen, stellt die Regierung FAIRMED bereits seit einigen Jahren Personal zur Verfügung. «Wir sind sehr glücklich, dass wir von FAIRMED gemeinsam mit der sri-lankischen Regierung so rasch damit beginnen konnten, die Gesundheitsversorgung im Norden des Landes aufzubauen. In Kilinochchi und Jaffna, insbesondere auf der Insel Delft, haben die Menschen die schlechteste Gesundheitsversorgung in ganz Sri Lanka», fährt Nayani Suriyarachchi fort.
Langer Weg zum ersten Haus
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages haben sich die fünfzig Gesundheitsmitarbeitenden samt dem FAIRMED-Team bei der einzigen Herberge, die diesen Namen halbwegs verdient, versammelt. Die Stimmung ist aufgeregt und fröhlich, das Vorhaben ehrgeizig: Wird es gelingen, bis zum Abend des nächsten Tages alle Inselbewohnenden zu Hause zu besuchen und medizinisch zu untersuchen? Sumankalai Yohitaran, unsere 30-jährige FAIRMED-Projektkoordinatorin, nickt und lächelt: «Wir haben alle Menschen auf Delft über die Untersuchung informiert. Sie haben einen Gesundheitsfragebogen zum Ausfüllen bekommen und die Zeitspanne, an der sie zuhause sein sollen, damit wir sie besuchen können.
15 Teams machen sich auf den Weg, die Familien auf ihren Listen auf Anzeichen von vernachlässigten Tropenkrankheiten und nichtübertragbare Krankheiten zu untersuchen.» Der Fotograf Sujeewa, die Journalistin Thulasi und ich schliessen uns dem Team Nummer sechs an, bei dem Sumankalai dabei ist. Den ersten Teil über die schlechte Strasse legen wir in einem offenen Geländewagen zurück, dann gehen wir zu Fuss über steinige und holprige Wege von Haus zu Haus. Was wir mit Schuhwerk als schwierig begehbar empfinden, scheint für die Inselbewohnenden, die allesamt barfuss unterwegs sind, ein Klacks zu sein. Während wir den langen Weg durch sattgrüne Palmenwälder entlangstapfen, raubt uns die Schönheit dieser urtümlich unberührten Naturlandschaft schier den Atem, aber auch die tropisch-schwüle Hitze macht uns zu schaffen. Nachdem wir eine Weile danach gesucht haben, landen wir endlich beim ersten Haus auf unserer Liste
Im leuchtend limettengrünen Haus wohnt ein Ehepaar in mittleren Jahren, Maruthaninar und Raja Perinbakumar. Die beiden scheinen sich über unseren Besuch zu freuen, begrüssen uns herzlich und fordern uns auf, uns auf die Stühle, die sie bereits vor dem Haus aufgestellt hatten, zu setzen. Den Gesundheitsfragebogen hatten sie schon vor unserem Eintreffen fixfertig ausgefüllt, sodass die eigentliche Untersuchung nur 20 Minuten dauert. Während Raja sich auf die Waage stellt und sich von der Pflegefachfrau ihre Körpergrösse und den Blutdruck messen lässt, befragt Sumankalai Maruthaninar: «Hattest du in letzter Zeit gesundheitliche Probleme?» «Ich hatte einige Male ein Stechen in der Brust und fühlte mich schwindelig», antwortet Maruthaninar. Sumankalai bedeutet der Pflegefachfrau, die gerade mit der Untersuchung von Raja fertig geworden ist, Maruthaninar den Blutdruck zu messen. Zwei Minuten später hat sich die Manschette des Messgeräts bereits wieder gelöst und Sumankalai erklärt Maruthaninar: «Dein Blutdruck ist perfekt, die Werte könnten nicht besser sein.»
Das Ehepaar Perinbakumar ist kerngesund
Auch alle weiteren Messwerte und Ergebnisse des Gesundheitschecks liefern nur positive Resultate. Maruthaninar und Raja freuen sich. Sie findet: «Ich bin sehr erleichtert zu wissen, dass wir beide kerngesund sind. Das ist nicht selbstverständlich. Ehrlich gesagt habe ich mir etwas Sorgen um meinen Mann gemacht, aber die kann ich ja jetzt zum Glück vergessen.» Ihr Mann fügt hinzu: «Ich bin froh, dass ihr zu uns nach Hause gekommen seid, um uns zu untersuchen, das nimmt uns jede Menge Arbeit ab.» Nachdem Sumankalai mit der Pflegefachfrau, welche die Untersuchungen machte, und dem Arzt, der Fragen stellte und Notizen machte, zum nächsten Haus weitergezogen sind, dürfen wir weitere Fragen stellen, zum Beispiel nach dem Verbleib der drei erwachsenen Kinder, die erwähnt worden sind. «Alle drei sind ausgezogen, zwei von ihnen sind verheiratet und leben hier auf Delft. Die jüngste, 23-jährige Tochter studiert in Jaffna christliche Religionswissenschaften», erzählt uns Raja.
Maruthaninar, der als Tagelöhner arbeitet, antwortet auf die Frage, ob die Einnahmen aus seinen Gelegenheitsarbeiten reichen, um die Familie zu versorgen: «Nein, es reicht nicht, und die Wirtschaftskrise bringt uns an den Rand des Hungers, aber da wir ganz sparsam leben, schaffen wir es immer irgendwie, durchzukommen. «Und was sagst du zur Gesundheitsversorgung auf der Insel?», wollen wir wissen. «Nun, wir haben zwar ein Spital – aber es fungiert hauptsächlich als ErsteHilfe-Zentrum. Für so ziemlich alles schickt man uns nach Jaffna aufs Festland. Hier kommt es ja häufig vor, dass man von etwas Giftigem gebissen wird – Insekten, Schlangen und dergleichen. Man schickt uns dann sofort zur Behandlung nach Jaffna. Da diese Tierbisse hier so häufig sind, würde ich mir wünschen, dass die Behandlung, die in Jaffna so leicht verfügbar ist, auch hier verfügbar wäre.»
Heirat im Flüchtlingslager
Im Verlauf des Gesprächs wird klar, dass beide im Krieg nach Indien geflüchtet waren, dort lange Zeit als Flüchtlinge gelebt hatten und schliesslich auf die Insel Delft zurückgekehrt sind. Maruthaninar erzählt: «Ich war 16 Jahre alt, als ich 1990 als Flüchtling nach Indien ging, meine Frau war 13 Jahre alt. Wir lernten uns im dortigen Flüchtlingslager kennen und heirateten, als ich 20 und sie 17 Jahre alt war. Wir haben 14 Jahre in Indien gelebt und sind dann 2005 zurückgekehrt.» Wo ist es besser zum Leben, in Indien oder Sri Lanka?, fragen wir. Sie antwortet: «Die Inder waren sehr freundlich und haben uns als Flüchtlinge willkommen geheissen. Meine Kinder, die dort geboren wurden, vermissen Indien noch immer. Wir waren dort glücklich, aber ich bin hier glücklicher. Es ist gut, im eigenen Land zu leben.» Und zum Schluss wollen wir wissen, wie es sich besonders auf der Insel Delft leben lässt. Er sagt: «Die Insel Delft ist ein schöner Ort zum Leben. Im Vergleich zum Hügelland, wo die Teepflücker leben, haben wir es hier besser. Wenn unsere wirtschaftliche Situation nicht so prekär wäre, hätte ich hier wirklich nichts zu bemängeln.»
Nicht alle sind zu Hause
Wir bedanken uns beim Ehepaar Perinbakumar für das offene Gespräch und machen uns auf den Weg, um unser Gesundheitsteam wiederzufinden. Nach rund einer halben Stunde durch dichte Palmenhaine erreichen wir verschwitzt und durstig unser Team, das gestikulierend vor einem stattlichen grauen Kalkhaus steht und lauthals von einem Hund angebellt wird. «Niemand da», seufzt Sumangkalai. Nun nähert sich eine Gruppe von Kindern dem Haus. «Guten Morgen, wo sind Amma und Appa*?», fragt Dr. Kanathipan, der Arzt im Team. «Sie sind ausgegangen», antwortet einer der Jungen. «Wussten sie, dass heute eine Gesundheitsuntersuchung ansteht?», fragt der Arzt. «Ja.» «Wann kommen sie zurück?» «Die Mutter wird bald zurück sein, sie ist zum Lebensmittelladen gegangen.»
*Mama und Papa
Nachdem wir eine Viertelstunde mit den Kindern geplaudert haben, kommt die Mutter nach Hause. Sie lächelt zwar höflich, drückt mit ihrer Miene aber sichtliches Missfallen an der bevorstehenden medizinischen Untersuchung aus. Die Frau, die sich als Richandakumar Jasey vorstellt, sieht untergewichtig aus, wirkt aber ansonsten gesund und energiegeladen. Da Sumangkalai sofort sieht, wie unwohl sich Richandakumar fühlt, versucht sie sie zu beruhigen. «Du hast nichts zu befürchten. Unser Service ist kostenlos und hat zum Ziel, deine Gesundheit und dein Wohlbefinden zu sichern. Dürfen wir dich untersuchen?» Sumangkalais sanftem Charme kann Richandakumar nichts entgegensetzen. «Ja.» Da Richandakumar den Gesundheitsfragebogen, der allen Inselbewohnenden verteilt worden war, noch nicht ausgefüllt hat, stellt ihr Kanathipan, der Arzt, die Fragen mündlich, was uns einen Einblick in Richandakumars Leben ermöglicht.
Ihr Mann ist Tagelöhnerer, er stellt Strohzäune her und repariert sie und geht auch zu Maurerarbeiten, wenn er Zeit hat. Sie haben drei Söhne. «Der älteste ist der 18-jährige Janarthan, der gerade seine Matura macht, der zweite ist der 15-jährige Sinthujan und der jüngste ist Vithushan, erst zwei Jahre alt.» Die Kinder, die uns begrüsst haben, sind Neffe und Nichte aus Jaffna, die in den Ferien auf Delft weilen. Richandakumar selber ist Hausfrau. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebt, entspringt einem Sozialwohnungsprogramm aus der Nachkriegszeit. Die jüngste Wirtschaftskrise bringt auch diese Familie an den Rand des Hungers. Bisher hätten sie trotz grosser Armut jedoch genügend Lebensmittel kaufen können, gibt Richandakumar zu Protokoll.
Starkes Untergewicht von 38 kg
Der Arzt will das nicht glauben: «Du siehst nicht aus, als ob du regelmässig essen würdest.» Die Pflegefachfrau Ruthustanthy beginnt, Richandakumar zu messen, zu wägen und zu untersuchen. Anschliessend gibt sie dem Gesundheitsinspektor Jayapradeep, der die Formulare ausfüllt, die Resultate bekannt: «Gewicht: 38 Kilogramm. Grösse: 151 cm. Blutdruck 85/124. Cholesterinspiegel 158.» «Dein Gesundheitszustand ist im Allgemeinen gut», sagte Doktor Kanathipan zu ihr. «Aber dein Body Mass Index ist mit etwa 17 extrem niedrig. Isst du wirklich regelmässig?» «Natürlich! Ich esse gut. Ich bin sicher, dass das ein Fehler ist. Lässt du mich noch einmal auf die Waage steigen?» «Okay. Versuchen wir es noch einmal.» Die erste Messung war richtig, Richandakumar wiegt nur 38 Kilogramm. «Für deine Grösse solltest du mindestens 41 Kilogramm wiegen», erklärt Kanathipan. «Und an deinen Augen kann ich erkennen, dass du blutarm bist. Bist du schon einmal zu einer Gesundheitsberatung im Inselspital gegangen?» «Nein.» «Dann schreibe ich jetzt eine Überweisung für dich. Versuch bitte, noch heute hinzugehen.»
Richandakumar wippt von einem Fuss auf den anderen. Ihre Körpersprache verrät, dass sie sich gegen weitere Untersuchungen sträubt. «Manchmal vergesse ich zu essen oder ich habe keine Zeit, weil ich meinen Sohn mit dem Fahrrad zum anderen Ende der Insel fahren muss, und manchmal nehme ich nichts, weil ich meinen Kindern, die noch wachsen, nicht das wenige Essen, das wir haben, wegessen will», sagt Richandakumar. Sumangkalai greift dies auf und fragt: «Richandakumar, hast du heute schon gekocht?» «Noch nicht, ich bin gerade dabei, das Mittagessen für die Kinder zu kochen.» «Gut, wir holen dich auf dem Rückweg ab, dann kannst du einen Teil des Weges zum Krankenhaus mit uns mit dem Geländewagen mitfahren, dann bist du schneller wieder zu Hause. Und du musst keine Angst haben vor dem Spital, du wirst ja nicht operiert werden, sondern Unterstützung bekommen, etwas Gewicht zuzulegen.
Vielleicht werden sie dir Wurmtabletten geben, dann bist du sofort wieder gesund», sagt Sumangkalai zu Richandakumar. Diese nickt und sagt: «Ja, ich komme gern mit euch mit.» Die FAIRMED-Landeskoordinatorin Nayani Suriyarachchi ist nach den beiden Tagen des Gesundheitsscreenings, das sie organisiert hat, müde, aber zufrieden: «Wir haben 92 Prozent der Haushalte abgedeckt, das ist eine gute Quote. Mein erster Eindruck ist, dass es zahlreiche Fälle von fehlsichtigen Menschen, die keine Sehhilfen haben, gibt sowie viele Diabetikerinnen und Diabetiker, ausserdem viele Menschen mit Behinderungen und weibliche Familienoberhäupter in prekärsten finanziellen Verhältnissen, die dringend Hilfe benötigen. Jetzt beginnen wir mit der Auswertung der Daten und beschliessen anschliessend alle Detailmassnahmen, die wir ergreifen werden.»