«Als ich Silva zum ersten Mal besuchte, wollte er mir nicht zuhören, er versuchte mich abzuwimmeln. Aber ich liess nicht locker. Da er ein dominanter Typ ist, der sich von Frauen, besonders von jüngeren, nichts sagen lassen will, habe ich mit ihm zuerst extra in einem autoritären Tonfall gesprochen. Nach und nach hörte er mir zu und begann Vertrauen zu fassen – und sehen Sie, was für ein positiver und erfolgreicher Mensch er geworden ist!» Mit diesen Worten bereitet uns die FAIRMED-Mitarbeiterin auf die Begegnung mit Silva vor, den wir gleich besuchen werden. Silva lebt in Polonnaruwa in der Nord-Zentralprovinz Sri Lankas, wo die Ruinen berühmter Königspaläste von vergangenem Ruhm zeugen und majestätische wilde Elefanten frei zwischen hohen Bäumen umherspazieren. Manchmal durchschwimmen sie sogar die Stauseen, welche Könige vergangener Epochen angelegt hatten, um die Landwirtschaft in der trockenen Landschaftszone Polonnaruwas möglich zu machen.
Im Rollstuhl nach Sturz von Mangobaum
Silva wartet bereits vor seinem Haus, um uns zu begrüssen. Er ist ein starker und eigenwilliger Charakter, intelligent und lebenserfahren, das sehen wir an der Art, wie er mit uns spricht und mit Armen und Händen gestikuliert. Im Rollstuhl fährt er uns voraus und zeigt uns die Stangen, an denen er uns seine täglichen Kraftübungen vorzeigt. Als wir unsere Bewunderung für seine Ausdauer ausdrücken, sagt er: «Das habe ich einzig Jeewanthi zu verdanken. Sie hat nicht lockergelassen, bis ich mich jeden Tag bewegt habe. Inzwischen trainiere ich freiwillig jeden Tag.»
FAIRMED-Mitarbeiterin Jeewanthi hat Silva 2018 zum ersten Mal getroffen, zwei Jahre nach dem Unfall, der Silva die Wirbelsäule gebrochen hat. Er war auf einen Baum gestiegen, um für seine drei Töchter, die damals noch Teenager waren, ein paar köstlich süsse, prallgelbe Mangos zu pflücken. «Obwohl ich mich zum Schutz vor den tödlichen roten Ameisen von Kopf bis Fuss mit Kerosin eingerieben hatte, griffen die Biester mich an, als ich auf den Baum stieg. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich wild herumfuchtelte, um die Ameisen abzuwehren. Dann wachte ich im Spital wieder auf.»
Der Schock kam erst zu Hause
«Die Ärzte im Spital haben mich gut versorgt. Aber der Moment, als ich wieder nach Hause kam, war ein Schock. Ich sass da an meinen Rollstuhl gefesselt und hatte nichts zu tun, war nur unnütz und im Weg.» Bis zum Tag seines Unfalls war Silva ein erfolgreicher Lastwagenfahrer gewesen, der im ganzen Land umhergefahren war. «Für mich war es berauschend, immer wieder neue Herausforderungen zu überwinden. Ich liebte es zum Beispiel, Stapel von gefällten Bäumen über schwieriges Gelände wie Berge oder wassergesättigten Boden zu ziehen. Ich bekam von allen Seiten Anfragen, von gegenseitig verfeindeten Gruppierungen, der Armee, von Präsidenten und Premierministern.
Ja, ich war ein erfolgreicher Lastwagenfahrer», sagt Silva mit einem wehmütigen Seufzen. «Du bist immer noch erfolgreich», wirft Jeewanthi ein. «Oder sagen wir es so – du bist wieder erfolgreich, auf eine neue Weise!». Und ergänzt: «In Sri Lanka werden Menschen mit Behinderungen noch immer viel zu wenig gut aufgefangen. Es fehlt an Einrichtungen, welche die Rückkehr vom Spital nach Hause abfedern, um die Menschen nach Unfällen auf ihr neues Leben vorzubereiten. Es fehlt an Einrichtungen wie rollstuhlgängigen Rampen, damit diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Es fehlt an kreativen Ideen, wie diese Menschen trotz Behinderungen wieder erwerbstätig werden können. Und da im Moment der Treibstoff rationiert und teuer ist, können es sich die meisten Menschen gar nicht leisten, ins Spital oder zum Physiotherapeuten gefahren zu werden.»
Schlank und erfolgreich – Silva erfindet sich neu
FAIRMED schliesst diese Lücken mit dem Projekt «Divisarana». Mitarbeitende besuchen Menschen mit Behinderungen regelmässig zu Hause, organisieren die nötige Unterstützung in Form von Therapien, Geräten und Umschulungen, vernetzen die Menschen mit Behinderungen mit anderen Betroffenen und unterstützen sie beim Wiedereinstieg in eine neue Form des Gelderwerbs. Und sie nehmen sich Zeit, um gut zuzuhören. So wie Jeewanthi es seit fünf Jahren mit Silva macht. «Ohne sie hätte ich es nicht geschafft», sagt Silva. «Sie ist so hartnäckig und geduldig, hat immer an mich geglaubt und mich nie aufgegeben. Als ich keine Ahnung hatte, was ich mit meinem Leben im Rollstuhl noch anfangen könnte, ermutigte sie mich, damit zu beginnen, Gemüse anzubauen. Vorher war ich übergewichtig und depressiv, jetzt bekomme ich Komplimente, dass ich viel schlanker, energiegeladener und jünger aussehe.»
«Dazu gibt es eine lustige Geschichte», wirft Jeewanthi ein. «Nachdem Silva eingewilligt hatte, es mit dem Gemüseanbau zu versuchen, habe ich ihm von einem Gemüsebauer Setzlinge für Betelpflanzen, welche die Menschen in Sri Lanka gerne kauen, besorgt. Die letzten Male, als ich bei diesem Gemüsebauer wieder Setzlinge holen wollte, um sie anderen Menschen mit Behinderungen zu bringen, sagte er zu mir: ‹Hol die Setzlinge bei Silva, er hat jetzt die besseren als ich!›»
Das beste Gemüse weit und breit
Silva führt uns durch seine schön angelegten Gemüsegärten und zeigt uns die üppig gedeihenden Maiskolben, Fingerhirsehalme, Chilipflanzen, Okras, Zwiebeln, Kürbisse und Kokosnüsse. «Silva ist inzwischen der weitherum erfolgreichste Gemüsebauer», erzählt Jeewanthi. «Und er ist als Landwirt in der Gegend so bekannt, dass er keine Probleme mit der Vermarktung seiner Erzeugnisse hat.» Die Leute kommen zu Silvas Haus, um bei ihm Gemüse zu kaufen. Und um seine Farm zu bewundern, die üppiger und gepflegter ist als die der meisten anderen Bauern in der Gegend.
«Silvas Frau und Töchter machen sich bereits Sorgen, dass die Leute Silva böse Blicke zuwerfen könnten, weil er trotz seines Rollstuhls so gut wirtschaften kann. Sie ermahnen ihn immer wieder, nicht so viel zu tun – der böse Blick ist ein lokaler Aberglaube, bei dem die Menschen befürchten, dass zu viel Bewunderung ihnen schaden könnte.»
Schneckenjagd in der Nacht
Davon lässt sich Silva nicht abschrecken. «Wenn es sein muss, gehe ich in der Nacht dreimal im Dunkeln in die Gärten, um die Schnecken zu vertreiben. Auch wenn ich dafür die Taschenlampe mehrmals neu aufladen muss. Ich tue alles für meinen Garten.» In Zeiten wie dieser schweren Wirtschaftskrise, die Sri Lanka getroffen hat, ist das Gemüse, das Silva anbaut, von unschätzbarem Wert. «Die Leute in Polonnaruwa können sich längst nicht mehr alles leisten, was sie essen möchten, so teuer sind die Lebensmittel inzwischen geworden», sagt Silva. Er hält inne. «Mein Selbstbild ist immer noch das eines starken, kräftigen und unabhängigen Mannes.
Es gibt noch immer Momente, in denen ich damit hadere, dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin. Aber die Landwirtschaft hilft mir. Früher habe ich mich in unwegsamem Gelände, sogar in Kriegsgebieten, bei nationalen Strassen- und Staudammprojekten durchgeschlagen. Jetzt versuche ich, auf hartem Boden und inmitten regelmässiger Überschwemmungen Pflanzen anzubauen. Das verschafft meiner Familie ein ausreichendes Einkommen und hält mich auf Trab», sagt Silva.
Vorbild für jüngere Menschen mit Behinderungen
Jeewanthi und Silva verbindet inzwischen eine Freundschaft. «Sie kommandiert mich zwar herum», meint Silva mit einem Augenzwinkern, «aber sie meint es immer gut mit mir!» «Es brauchte viel, um mir seinen Respekt zu verschaffen», sagt Jeewanthi, «aber es hat sich gelohnt. Ich habe von der ersten Sekunde an gemerkt, dass Silva ein überlebensgrosses Potenzial hat, das nur wieder ans Tageslicht gebracht werden muss.» Inzwischen macht Silva das Gleiche, was Jeewanthi bei ihm gemacht hat, bei anderen Menschen mit Behinderungen. «Wir bringen oft jüngere Menschen mit ähnlichen Behinderungen, die sich noch nicht vom Schock ihres Unfalls erholt und noch nicht mit den Einschränkungen, die lebenslang bestehen bleiben, abgefunden haben, hierher zu Silva», sagt Jeewanthi.
«Es ist schwer, ehemals gesunde Menschen, die plötzlich mit einer lebenslangen Behinderung konfrontiert sind, wieder auf die Beine zu bringen, wenn die Depression sie übermannt. Aber wir bringen sie hierher, um sie mit Silva in Kontakt zu bringen und ihnen zu zeigen, was er trotz seines fortgeschrittenen Alters erreicht hat, um ihnen Hoffnung und Motivation zu geben. Silva ist eine unserer besten Erfolgsgeschichten, noch viel eindrücklicher als die Geschichte von jüngeren Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Silva hat sich der Herausforderung gestellt, über seine Behinderung hinaus zu leben. Er ist eine Inspiration.»
Niemand darf an einer heilbaren Krankheit leiden oder sterben
Nayani Suriyarachchi • Landesverantwortliche Sri Lanka
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